1. Awareness im veto
1.1 Was bedeutet Awareness für uns?
Awareness (aus dem Englischen = Bewusstsein, Aufmerksamkeit) ist eine Möglichkeit, auf Diskriminierung und Herrschaftsverhältnisse aufmerksam zu machen und Menschen, die Grenzüberschreitungen erlebt haben, in ihrem Umgang damit zu unterstützen. Es geht darum, auf Grundlage des Präventionskonzepts des vetos einen Raum zu schaffen, in dem keinerlei Übergriffe oder diskriminierendes Verhalten geduldet werden und die individuelle Handlungsfähigkeit durch kollektive Verantwortungsübernahme gestärkt wird.
Das solidarische Miteinander und die Offenheit der Szene sollen bei Veranstaltungen im veto anhand der Umsetzung dieses Awareness-Konzepts konkret werden.
In diesem Zuge bieten wir eine Alternative zu gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten.
Wir wollen Gewalt und Diskriminierung nicht als individuelle Probleme verstehen und Awareness ist für uns lediglich ein Versuch, Diskriminierung und Gewalt in konkreten Räumen und Situationen einen gemeinschaftlichen Umgang entgegenzusetzen.
Natürlich kann Awareness strukturelle Gewaltverhältnisse nicht auflösen. Die Idee von Awareness ist, dass es Gruppen gibt, die Unterstützung für Betroffene von Diskriminierung und Gewalt anbieten. An einem konkreten Ort und für einen begrenzten Zeitraum. Awareness kann dabei nur eine „Übergangslösung“ sein, die mit den akuten Auswirkungen von Herrschaftsverhältnissen umgeht. Es bedarf darüber hinaus auch emanzipatorischer Kämpfe, die sich für radikale Veränderungen und konsensorientierte zwischenmenschliche Beziehungen einsetzen und auf eine grundlegend andere Gesellschaft abzielen.
Für Veranstaltungen bedeutet das: Betroffenen Menschen Möglichkeiten anbieten, ihren selbstbestimmten Umgang mit der Situation zu finden und zu überlegen, wie sie gegebenenfalls weiter an der Veranstaltung teilnehmen können. Wir verstehen Awareness nicht als Form der Mediation zwischen zwei Konfliktparteien. Der Vorfall soll weder objektiv bewertbar sein müssen, noch soll eine Sanktionierung nach vorgegebenen Regeln erfolgen, wie es beispielsweise im Justizsystem üblich ist. Wir setzen Definitionsmacht nicht mit Handlungsmacht über andere gleich. Daraus, dass jede Person das Recht hat, die eigene Wahrnehmung des Passierten zu benennen, folgt nicht, dass wir es unhinterfragt ihr überlassen wollen, unseren Umgang mit der Situation zu bestimmen. Grundsätzlich sind wir aber parteilich, d.h. wir sind prinzipiell auf der Seite der betroffenen Person und möchten in deren Interesse handeln.
1.2 Ziel von Awareness im veto
Unser Ziel ist es, diskriminierende Übergriffe – auch wenn sie nicht intentionalen Ursprungs sind – als solche anzuerkennen und die Betroffenen wahr- und ernstzunehmen. Konkrete Aufgaben sehen wir in
- der Vermeidung einer weiteren Eskalation und
- dem Angebot von Hilfe für diejenigen, die sie brauchen und wollen.
Von Übergriffen, Gewalt oder Diskriminierung betroffene Menschen werden nicht allein gelassen und durch die Anerkennung von Betroffenheiten richten wir eine Botschaft nach außen, um das bisherige Schweigen zu Normalitätserwartungen im Party-Kontext zu durchbrechen.
2. Aufgabenbereich und Vorgehen im veto
2.1 Grundsätzliches
Neben der Gesamtverantwortung aller im veto Aktiven, die sich aus dem eigenen politischen Anspruch ergibt, und der Besucher*innen, die wir ebenfalls in der Verantwortung sehen, werden Awareness-Teams eingesetzt. Es soll allen im veto Aktiven möglich sein, Awareness-Arbeit zu machen. Wir wollen uns gegenseitig darin bestärken, Awareness als Aufgabe aller zu etablieren und Awareness eigenständig sicherzustellen.
Das Awareness-Team legt den Fokus vor allem auf die Unterstützung der Betroffenen. Unserer Erfahrung nach konnten wir bisher bereits recht erfolgreich gewaltausübende Personen des vetos verweisen, wenn wir von Gewalt erfahren haben. Awarenessstrukturen sind in unseren Augen dennoch notwendig, um eine durchgehende Ansprechbarkeit zu gewährleisten und vorhandene Lücken zu füllen.
2.2 Was ist nicht Aufgabe von Awareness?
Der hohe Anspruch, alle Besucher*innen des vetos zufriedenzustellen, ist in unseren Augen zu umfassend. Zu viele (und vor allem unkontrollierbare) Variablen beeinflussen, ob sich Personen wohl fühlen oder nicht.
Die Erwartungshaltung, dass das Awareness-Team alle Probleme auf einer Veranstaltung mitbekommen sollte, ist falsch. Ein realistischer Anspruch ist also, einen guten Umgang mit aufkommenden Problemen zu finden – nicht, dass keine Probleme mehr auftreten.
Der Fokus unserer Arbeit liegt nicht darauf, Care-Arbeit für betrunkene oder druffe Personen zu leisten. Rauschzustände sollten jedoch als zusätzlicher Risikofaktor für Übergriffe ernstgenommen werden.
Personen, die individuelle Probleme (z.B. die Lichtverhältnisse, die Musiklautstärke etc.) anmelden, sollen mithilfe der Wahl des richtigen Aufenthaltsorts im veto die Möglichkeit erhalten, weiterhin an der Veranstaltung teilzunehmen.
2.3 Was ist Aufgabe von Awareness?
Infolge des politischen Anspruchs unseres Raums soll Awareness vor allem die betroffenenorientierte Unterstützung beinhalten. Die Teams verschaffen sich zwar regelmäßig während der Veranstaltung einen Eindruck von der Stimmung der Besucher*innen, können aber nicht alles mitbekommen. Das Team kann von Betroffenen hinzugezogen werden, wenn sie sich in einer Situation nicht mehr handlungsfähig fühlen. Das bedeutet, dass das Team ansprechbar ist und gleichzeitig, dass es im Zweifel angesprochen werden muss. Betroffene oder ihr „Umfeld“ können und sollen also aktiv auf das Team zukommen. In Bezug auf die konkreten Formen von patriarchaler und sexueller Gewalt orientieren wir uns am Präventions- und Handlungskonzept des vetos.
2.4 Prinzipien von Awareness
Die Definitionsmacht über die Deutung von Erlebnissen liegt bei den Betroffenen. Die Handlungs- bzw. Sanktionsmacht liegt beim Awareness-Team, um der (politischen) Verantwortung der Veranstalter*innen gegenüber anderen Besucher*innen gerecht zu werden. Die Wünsche der betroffenen Personen sollten dennoch thematisiert werden. Wir nehmen Betroffene ernst.
3. Arbeitsweise
3.1 in der Unterstützung von Betroffenen
Mithilfe verschiedener Handlungsmöglichkeiten soll ein angemessener Umgang mit der Situation gefunden werden. Dazu gehört das Eingreifen und Auflösen der akuten Belastungssituation. Wiederholtes Fragen nach Wünschen sollte vermieden werden, um keine Rechtfertigungsatmosphäre zu schaffen. Es gibt einen Rückzugsraum, der bei Bedarf genutzt werden kann.
Mögliche Handlungsoptionen in Bezug auf die Unterstützung der betroffenen Person sind:
- Gespräch über die Situation
- Ablenkung durch Gespräch zu einem anderen Thema
- Telefonat mit einem Krisentelefon oder Weiterleitung an professionelle Beratungsstellen
- Kontaktierung von Freund*innen/Familie/Mitbewohner*innen/Partner*innen
- frische Luft, Entspannungsübungen, Ablenkung
- Körperkontakt oder Alleinsein
- …
Die Unterstützung der Betroffenen soll so angelegt sein, dass die Situation entsprechend der akuten Möglichkeiten akzeptabel abgeschlossen ist. Gleichzeitig soll eine zeitliche Begrenzung der Unterstützung die kontinuierliche Nutzung des Rückzugsorts gewährleisten, wodurch die Erstversorgung nach einem Übergriff keine ausführliche Bearbeitung eines Erlebnisses beinhalten kann.
Wenn die betroffene Person bleiben möchte, werden Rahmenbedingungen geklärt, die dafür notwendig sind. Das Awareness-Team unterstützt Betroffene, die die Veranstaltung verlassen möchten, indem es verschiedene Optionen für den Heimweg aufzeigt.
Die Art des Vorgehens orientiert sich an den Voraussetzungen und Grenzen der Teammitglieder.
3.2 im Umgang mit gewaltausübender Person
Mögliche Handlungsoptionen in Bezug auf den Umgang mit der gewaltausübenden Person sind:
- Ansage zur Schaffung von Transparenz
- Verwarnung
- Rausschmiss und/oder Konfrontation
- …
Die Art des Vorgehens orientiert sich an der Rollenverteilung der Teammitglieder und auch an der Einsichtigkeit bzw. Ansprechbarkeit der gewaltausübenden Person.
Dem Awareness-Team kommt die Doppelfunktion als Rausschmiss-Instanz zu. Das Awareness-Team ist befugt, vom Hausrecht der Organisator*innen Gebrauch zu machen. Im Falle von einem gesonderten Schutzteam muss mit diesem das Awareness-Konzept und die Kommunikationsebene über den Umgang mit Problemsituationen abgeklärt werden.
Das Awareness-Team kann über Rausschmisse entscheiden, kann sich jedoch für die Durchsetzung zusätzliche Unterstützung holen, z.B. von Umstehenden, Leute an der Bar etc. Das Klären solcher Situationen hat absolute Priorität.
Körperliche und verbale Konflikte werden aufgelöst und den Betroffenen soll jener Support zukommen, den sie brauchen. Dabei sollen lange Diskussionen vermieden werden und es wird stattdessen eine räumliche Distanzierung zwischen den Konfliktparteien angestrebt. Gestützt wird dieses Vorgehen durch das Aufzeigen von Handlungsoptionen für alle Beteiligten. Das Unterbinden oder Führen von politischen Debatten in stressigen Momenten ist jedoch keine für das Awareness-Team vorgesehene Aufgabe.
3.3 Awareness-Team
3.3.1 Grundsätzliches
Für die konkrete Umsetzung dieses Konzepts ist ein Team in wechselnder Zusammensetzung verantwortlich. Die Awarenessteams sprechen sich vor der jeweiligen Schicht ab, um sich inhaltlich zu verständigen, Unklarheiten aufzulösen und zu klären, wer welche Aufgaben übernehmen kann bzw. wo die jeweiligen Grenzen liegen.
3.3.2 internes Awareness-Team
Jedes Awareness-Team besteht aus mind. zwei Personen, darunter mind. eine FLINTA*-Person. Die Rollenverteilung (Betroffenenkontakt, Schutz-Aufgaben, Gewaltausübenden-/Täter*innenkontakt) wird nach Möglichkeit vor der betreffenden Schicht im Team abgesprochen.
Das Team besteht in der Regel aus nicht-professionellen Personen, die jedoch im Vorhinein ihres Einsatzes das vorliegende Awareness-Konzept gelesen und als Arbeitsgrundlage akzeptiert haben. Die Teammitglieder treten ihre Schicht nüchtern an und bleiben bis zum Ende der Schicht auch nüchtern.
Beim Schichtwechsel des Awareness-Teams geben die scheidenden Awareness-Personen Hinweise auf vergangene Situationen an das ablösende Team weiter.
3.3.3 externes Awareness-Team
Beim Einsatz externer Awareness-Teams bei Veranstaltungen ist eine Einarbeitung in das vorliegende Awareness-Konzept notwendig. Externe Organisator*innen von Veranstaltungen im veto tragen die Verantwortung, ein Awareness-Konzept umzusetzen, das sich an unserem Konzept orientiert. In beiden Fällen soll hierzu ein Austausch zwischen Organisator*innen und veto-Aktiven stattfinden.
3.3.4 Sichtbarkeit für Besucher*innen
Das Team ist an pinken Leucht-Armbändern zu erkennen. Die Vorstellung des Awareness-Teams bei den anderen Schichten erleichtert die Unterstützung von Betroffenen (z.B. durch das Weiterleiten von Personen zu den zuständigen Awareness-Personen) und die gemeinsame Bewältigung von eskalativen, gewaltvollen oder fordernden Situationen (z.B. durch die Unterstützung beim Durchsetzen eines Hausverbotes bzw. eines Rausschmisses). Einlass, Schutz, Bar und Awareness-Team stehen miteinander in Kontakt und können Unterstützung organisieren.
3.3.5 Sichtbarkeit der Awareness-Struktur nach außen
Die Sichtbarkeit der vorhandenen Awareness-Struktur wird über folgende Punkte gewährleistet:
- Veröffentlichung dieses Konzepts auf der Website des vetos
- Aushang (mehrsprachig) einer gekürzten Erklärung zum Konzept und möglichen Handlungsoptionen im Falle von Diskriminierung, Gewalt und Grenzüberschreitung innerhalb des Veranstaltungsraums
- Nach Möglichkeit Hinweise in den Ankündigungstexten für Veranstaltungen im veto
- verbaler Hinweis zum Awareness-Konzept bei allen Veranstaltungen (z.B. durch Referent*innen, Bands, Organisator*innen etc.)
4.Verschiedene Formate
Bei unterschiedlichen Veranstaltungen werden verschiedene Formate der Awareness-Konzept-Umsetzung angewandt. Um das genutzte Format sichtbar zu machen, gibt es eine Markierung am Einlass.
4.1 Bei größeren Veranstaltungen in Vorraum und Halle sind eigene Awareness-Teams im Schichtplan eingebettet. Es wird bei jedem Konzert eine Awareness-Struktur (z.B. getragen von Springer*innen, Einlass, Organisator*innen) geben, aber nicht immer ein extra Team.
Die Awareness-Teams sind mobil, um ansprechbar und sichtbar zu sein. Das veto endet für uns nicht an der Tür; wir denken den Bereich vor dem veto mit.
4.2 Bei kleineren Veranstaltungen im Vorraum sind die Organisator*innen der Veranstaltung oder die Personen hinter der Bar (und falls vorhanden des Einlasses) für Besucher*innen ansprechbar und übernehmen die oben geschilderten Aufgaben. Ein explizites Awareness-Team gibt es nicht; ein Rückzugsraum wird bei Bedarf genutzt.
5. Raum und Material
Wir stellen sicher, dass es bei jeder größeren Veranstaltung einen Rückzugsort gibt. Wir stellen außerdem einen Grundstock an Verpflegung bereit (Decken, Tee, Wasser, Taschentücher, Snacks, Stifte, Papier), damit betroffene Personen in Ruhe einen Umgang mit ihrer Situation finden können.
Zudem gibt es Infomaterial für Betroffene und Unterstützer*innen. Wir stellen eine Liste mit Anlaufstellen zur Verfügung, die Betroffene von Diskriminierung, Gewalt oder Grenzüberschreitung langfristig begleiten und unterstützen können.
Hierbei zu nennen sind:
- Antisexistischer Support Erfurt, Jena, Leipzig
- Brennessel Erfurt
- Queeres Zentrum
- Frauenhaus Erfurt
6.Vor- und Nachbereitung
Awareness-Schichten werden vor den Veranstaltungen im Schichtplan verteilt. Die Auswertung einer Veranstaltung, unter Einbezug der Erfahrungen der Awareness-Teams, findet im veto-Plenum statt.
Die Möglichkeit zu Feedback per Mail oder im zweiwöchentlichen veto-Plenum steht allen Menschen zur Verfügung, die Verbesserungen des Konzepts anregen möchten. So unterliegt das Konzept einer kontinuierlichen Evaluation.
Für Personen, die erlebte Übergriffe im Nachhinein melden möchten, ist unsere Kontaktgruppe unter der Mailadresse betroffenensupport-veto@riseup.net erreichbar. Weitere Informationen finden sich unter https://veto.blackblogs.org/praeventions-und-handlungskonzept-sexuelle-gewalt/.